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Der Samichlaus, im Lungerer Dialekt «Samiglois», wird auf seinem dreitägigen Rundgang durchs Dorf von einem Tross jugendlicher Trinkler begleitet.

 

Lungern, das höchstgelegene Dorf im Sarneraatal, liegt auf 712 m ü. M. am Brünigpass. Rund 2200 Menschen leben hier. Das Dorf ist dreigeteilt: Der Weiler Kaiserstuhl-Bürglen am nördlichen Ende des Lungernsees, der Weiler Obsee und das Dorf an der Brünigstrasse. Das markanteste Gebäude des Strassendorfs ist die 1893 im neugotischen Stil eingeweihte Herz-Jesu-Kirche. Obsee ist eine Streusiedlung mit ursprünglichen Bauernhäusern und Ökonomiegebäuden, die St. Beat-Kapelle stammt aus dem 16. Jahrhundert. Das Dorfbild von Obsee ist von nationaler Bedeutung (Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz ISOS).

Zwischen Lungern-Dorf und Obsee zieht sich eine unsichtbare Grenze: So hat der kleine Ort nicht nur zwei Teilsamen (Korporationen) sondern in der Adventszeit auch zwei Samichläuse und zwei Treichlergruppen. Die «Dorfer»- (Lungern-Dorf) und die «Seewser»-Treichler (Lungern-Obsee). Zwischen den «Dorfern» (früher die «Mehrbessern») und den «Seewsern» (früher die Bauern) werden noch heute eine Reihe von Spötteleien kultiviert.

 

An drei Tagen unterwegs

Samichlauseinzüge gibt es in der Schweiz unzählige – der Samichlaus zieht, begleitet von seinem Gefolge, Fackelträger, Knechte, Lampionträger, Treichler und Iffelen ins Dorf. Die Menschen stehen am Strassenrand und auf einem Platz begrüsst der Samichlaus die Kinder und Erwachsenen. Dann geht man nach Hause.

Nicht so in Lungern. Am Freitag, Samstag und Sonntag ziehen zwei «Samigloisä» (und je zwei Diener und je ein Schmutzli), einer im Dorf, einer in Obsee und Kaiserstuhl-Bürglen, von Haus zu Haus, begleitet von einer Schar treichelnden Kinder und Jugendlichen. Während diesen Tagen, vom frühen Nachmittag bis spät am Abend, ist ganz Lungern erfüllt von Treichel­klängen.

Das Samichlausbrauchtum ist der jährliche Höhepunkt für die Buben. Dafür proben sie bereits den ganzen November: Jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag ziehen die Buben treichelnd durchs Dorf. Mädchen dürfen nicht mitmachen. Trinkeln kann man ab der fünften Klasse bis zur dritten Oberstufe. Ein Trinklerchef ist für das Einüben verantwortlich, organisiert wird das Brauchtum seit 1927 von der Jungmannschaft.

 

Der Samichlaus kommt zu Besuch

Die Buben treicheln mit den grossen Fahrtreicheln, in weissem Hirthemd, roter Wollmütze und rotem Halstüchlein. Heute ist es föhnig und angenehm warm. «Letztes Jahr hat es den ganzen Tag geregnet. Und vorletztes Jahr war es so kalt, dass die Hirthemden und Kappen steifgefroren waren», erzählt ein Bub. «Wir ziehen das durch, egal wie das Wetter ist.»

In Obsee ist es am Einnachten, der Mond zeigt sich am bewölkten Himmel und das verschneite Wilerhorn schimmert zauberhaft im fahlen Licht. Der Weg des Samichlauszugs führt entlang der schmalen Gassen und über Wiesen, vorbei an alten Bauernhäusern und Ställen. Die Fenster leuchten warm und dunkelgelb. Es ist als ob der Zug sich durch einen Adventskalender bewegen würde. Was verbirgt sich wohl hinter diesem oder jenem Fenster? Da und dort stehen Menschen in den Gassen, wenn der Samiglois mit den Trinklern vorbeizieht. Überhaupt ist alles auf den Beinen, was laufen kann. Es wird gelacht, diskutiert. Eine Schar Mädchen verfolgt den Zug, neckt die Buben. Sobald der Samichlaus mit seinen Dienern und dem Schmutzli im Haus ist, legen die Buben die Treicheln auf den Boden. Nun wird «groikt», geraucht, besser gepafft, denn Lungenzüge macht keiner. Das Rauchen von Cigarillos, Chrummä oder Zigaretten, ist quasi ein Lungerer Initiationsritus, eine Form des Übergangs vom Kind- ins Erwachsenenleben. Dies sei eine gute Prävention, versichern die Eltern.

 

Zwei Teller Spaghetti als Lohn

Ein Besuch dauert rund 20 Minuten. Die «Wägeler», zwei Buben mit Zweigang-Töffli mit Anhänger und dem Vorrat an «Veegel»

(ein Zopfgebäck in Form eines Vogels), Mandarinen und Nüssen, haben eine Liste dabei. Ein Haus nach dem anderen wird abgehakt. «Jetzt haben wir noch 10 Häuser und es ist schon acht Uhr», meint einer. Langweilig wird’s den Buben beim Warten nicht. Auf den Wiesen hats genug Platz zum Rutzen, Herumrennen oder Chneblen. Innert kurzer Zeit sind die schneeweisen Chutteli braun. Wer am Abend mit dem dreckigs­­ten Chutteli heimkommt, hat gewonnen, so ein inoffizieller Wettbewerb.

Zwischendurch wird auch gesungen – die Seewser proben ihr Schmählied gegen die Dorfer, mit dem sie am Sonntagabend die gegnerische Trinklergruppe herausfordern werden.

Um 21.00 Uhr macht der Zug halt. Seit sieben Stunden ist nun der Samichlauszug heute Samstag unterwegs. Der Samiglois, die Diener und der Schmutzli sind zum Essen in die warme Stube von Christa und Peter Ming eingeladen. Die Buben essen «draussen» in einem improvisierten, mit Plastikplanen bedeckten und mit einem Wärmestrahler geheizten Unterstand. Die dampfenden Spaghetti mit den beiden Saucen sind schnell verschlungen. Nach dem Essen zieht der Samichlaus mit den Trichlern weiter Richtung Dorf. Es wird

23 Uhr, bis sich der Seewser und der Dorfer Samichlauszug auf der Hauptstrasse treffen und gemeinsam trinkelnd ein letztes Mal durchs Dorf ziehen. Während die Buben erschöpft daheim ins Bett kriechen, festet die Dorfjugend in der alten Turnhalle weiter. Und die beiden Schmutzli ziehen von Beiz zu Beiz und schwärzen die Gesichter der hübschen Mädchen. Am Sonntag, 8. Dezember, nach dem Umzug am Nachmittag und weiteren Hausbesuchen, ist spät am Abend der Spuk nach drei anstrengenden Tagen vorbei, und die Kinder können am Montag ausschlafen. Sie haben am Morgen schulfrei.

 

Himmel oder Hölle?

Einer muss bei den Hausbesuchen des Samiglois öfters draussen bleiben: Der Schmutzli. In Lungern ist er furchterregend, gehörnt, schwarzrot geschminkt, mit Schellen am Gurt. Der Teufel. Diese Figur steht für die Präsenz des Bösen (Hölle), der sich aber unter der Kontrolle des Guten, des heiligen Nikolaus (Vertreter des Himmels) befindet. Die Namen für diese Figur variieren. Weit verbreitet ist der Name Knecht Ruprecht, in der Schweiz ist es der Schmutzli, in Österreich, Bayern und Südtirol heisst er Krampus.

 

In Lungern hält sich der Schmutzli beim Besuch des Samichlaus diskret im Hintergrund. Mit der Rute drohen, Herumtanzen und mit den Schellen rasseln, ist nicht mehr gestattet.

Vielerorts fürchteten sich die Kinder aber noch viel mehr vor dem Sack des Schmutzli. Wer beim Nikolaus-Besuch durchfiel, eine Art «Weltgericht» für Kleine, der landete symbolisch im Sack. Diese Vorstellung hat ein Vorbild im mittelalterlichen Seelenfresser, der die dem Satan verfallenen Seelen frass. Davon zeugt die Statue des Kindlifresser, zum Beispiel am Berner Kindlifresser-Brunnen von 1545.

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