Neues Leben im Bergdorf Fusio

«Im Tessin vergande die Landschaft, Häuser würden zerfallen und vom Wald überwuchert, es werde nichts gemacht». Das ist eine weit verbreitete, jedoch falsche Ansicht. Seit Jahren engagieren sich Menschen gegen die Abwanderung und den Zerfall ihrer Kulturlandschaft – einer von ihnen ist der aus Fusio stammende Architekt Giovan Luigi Dazio. Seine Arbeit ist beispielhaft für die sorgfältige Renovation und Umnutzung leerstehender Häuser und landwirtschaftlichen Bauten zu Ferienwohnungen.

 

In den 1970er-Jahren entdeckten Deutschschweizer im Tessin das Rustico als günstiges Ferienhaus und lösten einen eigentlichen Boom aus. Das Tessin wurde zum Sehnsuchtsort, um selbstbestimmt sein eigenes Paradies zu schaffen. Allzu oft entstand jedoch eine putzige Ferienhäuschen-Landschaft mit aufgeschütteten Terrassen, englischem Rasen, Grill und Sonnenschirmen. Solche Gebiete verlieren ihre kulturelle Identität.

 

Rückwanderung eingeleitet

Der 72-jährige Architekt Giovan Luigi Dazio ist in Fusio geboren und mit 10 Geschwistern in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Einige seiner Brüder leben immer noch hier. Er hat in Locarno zusammen mit seiner Tocher Lisa ein Architekturbüro, ist aber jeden Tag im Lavizzarata. Vor Jahren kam Giovan Luigi Dazio auf die Idee der Abwanderung eine «Rückwanderung» entgegenzusetzen. Er kauft alte, verfallene Häuser und Ställe und baut sie zu Ferienwohnungen um. «Viele Menschen sind müde von all dem Überfluss», sagt Dazio. «Die Leere und die Einsamkeit gewinnen in der heutigen Zeit an Faszination.» In Mogno und in Fusio hat der Architekt über 40 landwirtschaftliche Bauten renoviert. Die alte Substanz wird dabei erhalten und zurückhaltend mit modernen Elementen wie Glas oder Stahl ergänzt. «Selbstverständlich sind die Häuser isoliert, mit einem Bad und einer modernen Küche versehen», erklärt Dazio.

«Ich sehe keine andere Möglichkeit, die ländliche Baukultur meines Tals zu retten, als durch die Renovierung und Umbau der alten Häuser.»

 

Projekt «La Citadella»

15 Jahre war Giovan Luigi Dazio Bürgermeister von Fusio. Tradition und Fortschritt, Vergangenheit und Zukunft zu verbinden, das ist ihm wichtig. Die alten Häuser und Ställe sind für Dazio Zeugen der Geschichte. In seinem Dorf hat er bereits mehrere Häuser restauriert, so die Dependance und das Hotel Fusio am Ortseingang. 2017, nach 46 Jahren Dornröschenschlaf, wurde das 1880 erbaute Hotel wiedereröffnet.

Seine ganze Energie und Leidenschaft gilt dem Projekt «La Citadella» (die Festung): Giovan Luigi Dazio will dem Dorfkern neues Leben einflössen. 14 Häuser hat er gekauft, das älteste stammt aus dem 15. Jahrhundert. Dieser Dorfteil soll 40 bis 45 Menschen Platz bieten. Zum Projekt gehören auch Räume für gemeinschaftliche Begegnungen. «Indem wir uns mit unserer eigenen Geschichte und Kultur befassen, rüsten wir uns für die Zukunft», sagt Dazio.

Die Renovation kommt voran: Inzwischen sind sämtliche Dächer der Häuser im Dorfkern mit Granitplatten gedeckt, von einem kleinen Team von Steinhauern aus Italien und dem Tessin. Die Zusammenarbeit ist freundschaftlich – er wäre nichts ohne sie, betont der Architekt. Gegenüber dem Dorf liegt der Friedhof. «Diese Lage ist aussergewöhnlich», sagt Giovan Luigi Dazio. «Dort sind unsere Vorfahren begraben, die unser Dorf gebaut haben. Ihre Präsenz ist für uns ein Zeichen, dass wir Acht geben müssen, was wir mit dem Dorf anstellen.»

 

Neue Perspektiven für das Lavizzaratal

In Fusio lebten im 17. Jahrhundert 500 Personen (heute 30), Käse wurde exportiert, Hanf und Getreide angebaut, Speckstein zu Steinöfen und Kochtöpfen verarbeitet. Im 19. Jahrhundert emigrierten viele junge Menschen aus dem Lavizzaratal in europäische Metropolen, in die USA oder nach Australien.

Ab 1907 brachte der Abbau von Gneis Arbeit ins Tal. Seit 1946 wird im Val di Peccia Marmor abgebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich, aufgrund des Sogs der städtischen Zentren im Tal, der dramatische Bevölkerungsschwund fort. Zwischen 1950 bis 1970 erlebte Fusio durch den Bau grosser Staumauern eine tiefe Zäsur. Der Lago del Narèt und der Lago del Sambuco veränderten die Landschaft: Hochalpen versanken im Wasser, grosse Wasserfälle verschwanden.

Seit einiger Zeit mehren sich jedoch die Zeichen, dass das Lavizzaratal nicht nur Vergangenheit, sondern auch Zukunft hat. Die Vereinigung zum Schutz der Kunst- und Architekturschätze des Maggiatals kümmert sich seit 1975 um die Instandstellung von verfallenen Alpen, Kornspeichern oder Mühlen und macht diese zugänglich. Durch den «Sentiero Lavizzara», die «Via Alta Vallemaggia» oder die weltberühmte Kirche von Mario Botta in Mogno, kommen mehr Menschen ins Tal. 2004 haben sich die sechs Orte des Tals zur Gemeinde Lavizzara zusammengeschlossen, die Bevölkerungszahl hat sich stabilisiert. In Peccia ist etwas Grosses, Zukunftweisendes am Entstehen: ein internationales Bildhauerzentrum, dessen Eröffnung für Mai 2020 geplant ist.

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