Wo der Süden nicht mehr weit ist

Sie fällt schon von weitem auf, die zweigeschossige, grosse Alphütte. Ungewöhnlich – das Flachdach, das schneeweisse gestrichene Untergeschoss und die blauen Fensterläden. Vor dem Eingang stehen ein Suzuki Jimmy, ein Milchanhänger, ein grosser Tisch und zwei Sonnenschirme, die Schatten spenden. Fabian Zgraggen, Alpmitarbeiter in olivgrünen Tenue, spritzt den Vorplatz sauber. Nach einem Kaffee muss er weiter zum Heuen aufs Brüsti. Beat, der Mann von Agnes Zurfluh, ist dort am Mähen. Auf der Alp sind die neunjährige Jenny und ihre Mutter Agnes. Sie misten den Stall. Weit weg weiden die Kühe und Geissen. Es ist heiss, 35 Grad sind heute in Altdorf vorausgesagt. Im Gitschital, auf 1300 Meter, klettert das Thermometer nicht so hoch. Jenny liegt in der kühlen Stube auf dem Sofa und spielt ein Game auf dem Natel ihrer Mutter.

Seit über einem Monat ist Jenny z Alp. Ihre Eltern haben Alpdispens eingegeben, das Schuljahr war für die Zweitklässlerin bereits drei Wochen vor den Sommerferien zu Ende. «Jenny verbringt als einzige ihrer Klasse den Sommer auf der Alp», erzählt Agnes Zurfluh. «Die Alp ist darum in der Schule ein grosses Thema, etwas Besonderes. Die Klasse wünschte ihr für die Alpzeit viel Glück. Ein Mädchen wünschte Jenny eine Kuh die Goldmilch gibt, ein Bub ein Pferd.»

Auf der Alp hat Jenny genug zu tun und es wird ihr fast nie langweilig. Bei Nebel oder Regen spielt sie im riesigen Saal des ehemaligen Restaurants mit ihren Barbie-Puppen. Oft gibt’s auch Besuch: Cousins und Cousinen kommen jeden Sommer für ein paar Tage vorbei und drei Freundinnen aus ihrer Klasse dürfen je eine Woche mit Jenny auf der Alp verbringen. Die Alp und die Tiere faszinieren. Mit Begeisterung helfen alle mit. So ist Jenny nicht nur unter Erwachsenen und kann mit Gleichaltrigen zusammen sein, Bäche stauen, Versteckis spielen oder mit den Geissen herumrennen. Die Kinder sind ziemlich aufgedreht und können am Abend vor lauter Gekicher kaum einschlafen. Sind die Sommerferien vorbei, muss Jenny, wie alle andern, wieder zur Schule. Sie kann am Morgen mit ihrem Vater und der Milch ins Tal fahren. Am Mittag isst sie beim Gotti oder beim Grosi. Am Nachmittag kehrt sie um 3 Uhr mit dem Vater zurück auf die Alp.

 

Bald Meerjungfrau

«Ich bin am 16. Juli 9 Jahre alt geworden. Zum Geburtstag bekam ich von meinem Gotti eine Meerjungfrauenflosse», erzählt Jenny begeistert. «Das ist eine enge Badehose mit einer grossen Flosse – die Füsse sieht man nicht. Ich fühle mich wie eine Meerjungfrau aus einem Märchen. Und eine Hasenleine habe ich auch bekommen! Damit kann ich mit meinem Kaninchen Lucy auf der Alp spazieren.» Jenny erzählt von ihrem Alltag auf der Alp: «Am Morgen weckt mich das Mami zum Zmorgen­essen. Dann lassen wir die Kühe auf die Weide und ich helfe beim Misten der Ställe. Anschliessend lasse ich die Mastkälber nach draussen, füttere den Hasen Lucy und die beiden Hühner. Das braune heisst Strolch, das schwarze Chef. Auch die Geissen haben alle einen Namen: Amanda, Uschi, Wanda, Viva und Daina. Sie kommen oft auch am Abend mit, wenn ich die Kühe zum Melken hole. Und da ist noch unser schwarzes Kätzchen, das Tyfäli, und das übermütige Kälbchen Bianca. Ich helfe auch im Haushalt, zum Beispiel beim Abtrocknen. Beim Wildheuen muss ich rechen und bringe die Getränke.»

 

Was mag Jenny am liebsten?

„Am liebsten esse ich Hamburger und Pizza. Leider gibt’s das nicht jeden Tag. Ich bade gerne im Bach, ganz in der Nähe der Hütte“, erzählt Jenny und lacht. «Ich reite gerne. Ich nehme Reitstunden, zuerst bin ich Pony geritten. Im Schritt und Trab durfte ich schon ganz allein reiten. Im Herbst darf ich das erste Mal auf einem Pferd reiten. Es heisst Latino. Am 15. August haben wir Gitschitalerchilbi. Die ganze Familie ist am Vorbereiten. Meine Cousine Lily und ich richten in einem Zimmer einen Kinderhort ein. Wenn Mami einen Kuchen macht, darf ich die Schüssel ausschlecken. Meine Lieblingskuh heisst Flavia. Auf der Alp sammle ich vierblättrige Kleeblätter, dieses Jahr habe ich schon 12 gefunden, sogar ein fünfblättriges.» Jenny hat auch Wünsche – sie möchte gerne Ukulele lernen. «Einmal wollte ich Tierärztin werden, das will ich jetzt nicht mehr. Vielleicht werde ich Tierpflegerin?» Gerne hätte sie einen neuen Stall mit einer Rohrmelkanlage. Und Ferien, verreisen ans Meer, nach Sizilien. Mami erzählt oft von diesen Ferien und zeigt ihr die Fotos, die sie auf ihrem Natel gespeichert hat. Es gibt aber auch ein paar Dinge, die Jenny gar nicht mag: Fliegen, Spinnen und Lügen.

 

Gewitter auf der Alp

«Im Sommer 2017 hatten wir so viele Gewitter», sagt Agnes Zurfluh. «Öfters waren wir abgeschnitten. Ein Gewitter zieht sehr schnell auf. Plötzlich siehst du über dem Gitschen oder dem Grat schwarze Wolken. Hörst den Donner. Dann ist es meist zu spät. Am Schlimmsten ist der Hagel. Dann schliessen die Kühe die Augen und rennen in Panik talwärts. So sind schon ganze Herden über die Flühe in die Tiefe gestürzt. Bei uns im Gitschital, ist es Gott sei Dank nicht so gefährlich.» Agnes Zurfluh erzählt, wie am 1. August 2017 ihr Mann bei der Fahrt auf die Alp in ein Gewitter kam. Geschiebe und grosse Steine versperrten meterhoch die Strasse. Ein Weiterkommen war nicht mehr möglich. Beat Zurfluh hat die halbe Nacht mit dem Bagger die Strasse öffnen müssen, damit er am nächsten Morgen die Milch ins Tal bringen konnte. «Jeden Sommer habe ich ein wenig mehr Angst vor dem Gewitter», erzählt Jenny. «Einmal, wir waren bei den Kühen in den Planggen, schlug der Blitz direkt hinter uns ein. Ich fürchte mich vor dem Donner, weil es so laut kracht. Wenn es in der Nacht blitzt und donnert, darf ich bei Mami und Papi schlafen.»

 

Bergauf, bergab

«Beim Alpaufzug hat es geregnet, es gab Nebel», erzählt Jenny. «Wir mussten früh aufstehen. Ich habe den Wecker gerichtet, er heisst Schreihals, ist sehr laut und weckt das ganze Haus. Ich bin ich rechtzeitig aufgestanden und war bereit. Ich ging mit den Kühen voraus. Ich hatte auch einen Energy-Drink dabei, ein Pulver. Wenn ich müde wurde, habe ich davon getrunken, de han i wieder meegä.» «Für den Alpabzug schmücken wir unsere Kühe nur mit echten Blumen – es gibt so viele, Schwalbenwurz-Enzian, Hagebutten, Disteln. Ich habe letztes Jahr unter den Felsen einen Platz entdeckt», sagt Agnes Zurfluh. «Wir gehen meistens erst am Nachmittag ins Tal», sagt Jenny. «Bei der Alpabfahrt laufen wir mit den Kühen durchs Dorf. Ich trage eine Tracht. Letztes Jahr war es ganz besonders. Flavia, meine Lieblingskuh lief immer hinter mir her. Ich lief zuvorderst. Sie hat mich nie überholt oder gedrängt. Im September hat sie Zwillinge geboren.»

 

Ein Haus am Meer

«Ich denke oft an Sizilien», schwärmt Agnes Zurfluh. «Wir waren schon zwei Mal in Triscina, im Haus meiner Schwester, in der Nähe der Tempelanlagen von Selinunte. Das Meer, der Strand – traumhaft, wie das Essen. Melonen oder Orangen haben viel intensiveren Geschmack, als bei uns. Beim Haus steht auch ein Feigenbaum. Stell dir vor, einmal haben wir im Gitschital Feigen aus Sizilien gegessen...»

Inzwischen wirft der Gitschen Schatten auf die Alp. Jenny ist mit ihren Geissen und den Kühen von der Weide zurückgekehrt. Fabian Zgraggen und Agnes Zurfluh binden die Kühe in den Stall. Bald ist es Zeit zum Melken. Die Hütte leuchtet im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Blaue Fensterläden, weisse Mauern und wer die Augen schliesst – für einen Moment ein Haus am Meer, in Sizilien...

 

Alp Gitschital

Das Gitschital liegt je zur Hälfte in den Gemeinden Seedorf und Attinghausen. Der Palanggenbach bildet die Gemeindegrenze; die linke Talhälfte gehört zu Seedorf, die rechte Seite liegt auf dem Gemeindegebiet von Attinghausen. Gegen Nordwesten ist das Tal vom steilen Kalkmassiv des Brunnistocks, des Gitschenhöreli, des Rot Gitschen und des Gitschen abgeschlossen. Das Alpgebiet von 1300 bis 1700 m ü. M. wird von drei Familien bewirtschaftet, in einer Hütte wird gekäst. Die Alp hat die Familie Zurfluh-Herger von den Geschwister Imhof, Attinghausen, gepachtet. Auf ihrem Alpgebiet weiden 28 Kühe, 13 Rinder, 10 Kälber und zwei Mastkälber. Die Familie Zurfluh liefert ihre Milch alle 2 Tage zur Bergkäserei Aschwanden. Eine Besonderheit ist das grosse Alpgebäude. Das zweistöckige Haus hat sieben Zimmer, ein Flachdach und ist auch als ehemaliges Restaurant bekannt.

Zurück
Zurück

In den Fussstapfen von Bonadei

Weiter
Weiter

Neues Leben im Bergdorf Fusio