In den Fussstapfen von Bonadei

Es geht nichts ohne Hunde und Feldstecher

Alp Rinbord, hoch über Realp: die beiden Schafhirten Rainer und Lukas Frei sitzen am Tisch der rauchgeschwärzten, dunklen Alphütte beim Mittagessen. Bratwurst, Spiegeleier und Brot. «2015 war ich schon mal als Schafhirt auf der Furka», erzählt der 43-jährige Rainer Frei. Das sei ein Vorteil, man wisse, was auf einen zukäme. Der 20-jährige Lukas ist sein Neffe. Angestellt sind die beiden Schafhirten vom Andermattner Yak-Bauern Adrian Regli. «Wir kommen aus Lana, unweit von Meran», sagt Rainer Frei. Das Südtirol ist eines der grössten Obstanbaugebiete Europas. Von Oktober bis Mai arbeitet der gelernte Steinmetz Rainer Frei als Angestellter auf einem Obstbauernhof mit Melkziegen. Der grosse Unterschied: auf der Alp verdient er wesentlich mehr.

Mit Tieren kennen sich beide bestens aus: die Zucht der Passeirer Gebirgsziege ist ihre Leidenschaft. Rainer Frei hat seine Hunde auf die Alp genommen, fünf Border Collies, intelligente und aufmerksame Arbeits- und Hütehunde. Am liebsten sind sie mit «ihrem» Menschen zusammen, den sie immer im Blick haben, sich an ihn schmiegen. Hex und Tom, die beiden Collies verlangen Aufmerksamkeit, wollen gestreichelt werden. «Lay down», sagt Rainer spricht ein paar zärtliche Worte. «Ein Hund ersetzt zwei Hirten», sagt Rainer Frei. «Geh!», sagt er zu Hex. Schon rennt der schwarzweisse Collie blitzschnell einen Steilhang hoch, um Schafe zur Herde zurückzuholen. Der Hirt kommuniziert mit kurzen Wörtern, Pfiffen und Handbewegungen. Die Hunde kapieren sofort: Collies sind schnell, intelligent und konzentriert. Vier Hunde wechseln sich ab beim Hüten. Während zwei die Schafe bewachen, dürfen sich die beiden anderen einen Tag ausruhen. Der kleinste Hund lernt von den älteren.

Zurzeit haben die Schäfer ihr Quartier bei der Festung Fuchsegg, unterhalb der Alp Galenstock. Dort steht ihr Wohnwagen. Spätestens um vier Uhr müssen sie aufstehen. Es ist noch Nacht, wenn sie mit ihrem Pickup die Bäzstrasse hochfahren. Von Rossmettlen, einer ehemaligen Batteriestellung der Schweizer Armee, geht’s eine halbe Stunde zu Fuss weiter. Sie müssen vor Tagesanbruch die Schafe erreichen, bevor sie zu fressen beginnen und die Planggen hochsteigen. Die Hirten bleiben den ganzen Tag bei den Schafen.

«Das Anstrengendste ist das Hagen», sagt Rainer Frei. «Im Frühling, in den tiefer liegenden Weiden, sind wir nahe bei den Rinderweiden. Viele Netze haben wir jedoch schon vor der Alpzeit gestellt oder bereitgestellt.» In den höher gelegenen Weiden fällt das Hagen weg. Die Schäfer müssen die Schafe gut beobachten, sie «runterdrücken», wenn sie in gefährliche Felsbänder steigen. Dabei helfen die Hunde, Funkgeräte und Feldstecher. «Ohne Feldstecher bist du nur ein halber Mensch», sagt Rainer. Der tägliche Kontrollgang ist Pflicht. Verletzte oder schwache Tiere werden abseits der Herde auf einer flachen Weide eingezäunt und gepflegt. Häufig sind Klauenerkrankungen, Brüche oder Verletzungen durch Steinschläge.

Gegen Abend werden die Schafe «runtergedrückt». Um 20.00 Uhr brechen die Schäfer auf, um 21.30 Uhr sind sie beim Wohnwagen auf der Fuchsegg. Gern essen die Beiden eine warme Mahlzeit – Spaghetti oder Knödel (tiefgefroren) sind schnell gekocht. «Wenn die Tiere unruhig werden, ist das ist für uns ein Zeichen, dass die Schafe bald weiterziehen wollen », sagt Rainer Frei. Die älteren Schafe wissen, wo’s langgeht. In ein paar Tagen werden die beiden Hirten mit ihrer Herde weiterziehen, Richtung Albert-Heim-Hütte.

 

Der legendäre Schafhirt Pietro Bonadei

Pietro Bonadei, Sohn eines Bergamasker Hirten, flüchtete 25-jährig vor den Faschisten nach Frankreich. Dort blieb er sieben Jahre. 1946 emigrierte er zu Fuss in die Schweiz. 55 Jahre war Bonadei mit seinen Schafen unterwegs. Im Sommer im Urserntal, im Winter in der Nähe der Stadt Luzern.

Der selbstständige Schäfer Pietro Bonadei war eine markante Erscheinung: wettergegerbtes Gesicht, breiter Hut, grosse Sonnenbrille. Stets dabei ein Stock, Feldstecher und seine Bergamaskerhunde. Bei der Urschner Bevölkerung war Bonadei ausserordentlich beliebt. Vielleicht, weil er einer der ihren war. Ein wortkarger Bergler, eigenwillig, manchmal aufbrausend, manchmal schalkhaft. Gerne unterhielt er sich mit den Älplern, trank einen Kaffee im «Tiefenbach» oder wärmte sich in der Refuge des Hotels Furka­blick, beim Bergführer Karl Russi. Auch bei Berty Meyer, die von 1984 bis 2005 auf der Alp Galenstock käste, kam er regelmässig vorbei. «‹Scusi per sturbo›, entschuldige die Störung, sagte er jeweils zur Begrüs­sung», erinnert sich Berty Meyer. «Manchmal brachte er uns frisch geborene Lämmchen, die wir aufzogen. Der Bonadei gehörte zu uns. Oft kochte er am Abend Polenta und erklärte die Zubereitung auf seine Weise: ‹Muäsch ds Fin uubers Grob und dè unterenand und guät riärä.›» Seine Sprache, ein Gemisch aus Italienisch, war nicht für alle verständlich. Berty Meyer unterhielt sich mit ihm immer auf Italienisch. Manchmal versuchte sie ihn zum Essen einzuladen. Es gelang nie: «Danke, ha scho gha», soll Bonadei geantwortet haben.

Im Winter war Bonadei mit den Schafen in der Nähe der Stadt Luzern unterwegs. Ende Mai hat er jeweils die Schafe auf der Luzerner Allmend zusammengetrieben und nach Andermatt transportiert. Zuerst liess er die Schafe in Realp, beim Weiler Steinberge, weiden und zog im Verlauf des Sommers weiter nach Tiefenbach bis zum Furkapass. Er wohnte an verschiedenen Orten: Im Posthüttli, in einem Militärstall, in der Sidelenhütte, einem Stafel der Garschenalp. Oft übernachtete er im Wohnwagen. Besitz und Luxus waren ihm unwichtig. Er lebte im Einklang mit der Natur, mit seinen Schafen. Autofahren konnte Bonadei nicht. Er war mit seinem Töffli unterwegs, die Hunde transportierte er in einer grossen Kiste, die auf dem Gepäckträger befestigt war.

Zu seinem 80. Geburtstag lud Bonadei, Ehrenbürger von Andermatt und Kriens, viele Bekannte und Freunde zu einem Fest in Realp. Am 2. September 2001 starb Pietro Bonadei, 87-jährig, daheim in San Lorenzo di Rovetta bei Bergamo. In seinem Heimatort wurde er auch begraben. Im Restaurant des Hotels Tiefenbach erinnert noch heute eine Fotografie an Pietro Bonadei, den legendären Schafhirten.

 

Schafe im Urserntal

Die Korporation Ursern ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und wird aus der Gesamtheit der Talbürgerinnen und Talbürger gebildet. Das Hoheitsgebiet der Korporation Ursern umfasst eine Fläche von rund 175 Quadratkilometern und erstreckt sich über die drei Gemeinden Andermatt, Hospental und Realp. Die Korporation Ursern ist die grösste Grundeigentümerin im Tal.

Im Urserntal (Unteralp, im Furkagebiet, Witenwasserental, Gütsch-Riental) weiden rund 7500 Schafe. Die fünf Alpwirtschafter, die Schafe auf Korporationsallmend sömmern, haben bis spätestens zum 15. Februar ein Gesuch (Sömmerungsbewilligung) an den Engeren Rat der Korporation Ursern zu richten. Im Gesuch sind Weidegebiet, Art der Tiere, Stückzahl und Sömmerungs­tage anzugeben. Die Weidenutzung auf Korporationsallmend ist entschädigungspflichtig. Die Alpwirtschafter bezahlen für die Alpung der Tiere der Korporation Ursern eine Taxe – das sogenannte Weidgeld. Die Alpwirtschafter stehen zudem in der Pflicht jährlich in Form von Fronarbeit einen Beitrag an die Pflege- und Unterhaltsarbeiten der Weiden zu leisten. Die Schafhalter entrichten pro Tier den Alpwirtschaftern einen Hirtlohn. Die Alpwirtschafter erhalten für die Alpung der Schafe Sömmerungsbeiträge und bezahlen die Hirten.

Vier Alpvögte bestimmen den Auftriebstermin für das Schmalvieh. Die Schafe werden mit Lastwagen ins Urserntal transportiert. Beim Ausladen zählen die Alpvögte die Schafe. Eine zweite Zählung erfolgt Ende Juni.

In der Verordnung der Korporation Ursern über die Weidnutzung und -entschädigung steht unter Artikel 25, Besondere Bestimmungen: «Die unter Hirtschaft stehenden Schafherden müssen täglich von Tagesanbruch bis zur Dämmerung von einem erfahrenen Schäfer mit Hunden behirtet werden. Zur Einzäunung der Nachtlager und zur kurzfristigen Unterstützung der Weideführung dürfen nur unter elektrischer Spannung stehende Flexinetze verwendet werden. Der Zustand der Netze ist täglich zu kontrollieren. Zudem sind diese beim Wechsel des Sektors sofort zu entfernen.» Als letzter Abtriebstermin gilt der 31. Oktober.

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Wo der Süden nicht mehr weit ist